Fast vergessen (Lost Places 01)

Man muss ankommen, um Fotos zu machen. Wahrscheinlich habe ich deswegen in den letzten Jahren so wenige gemacht: Weil ich immer auf dem Weg bin, aber nirgends verweile. Runterkomme. Mich einlasse auf das, was ist. Wie soll man (sich) da ein Bild machen? Eindrücke aufnehmen, die bleiben?

Dabei kann es so einfach sein: Man fährt einfach in den Urlaub, kommt zufällig vom Weg ab, parkt das Auto im Gebüsch, kämpft sich kurz durchs Brennesselgestrüp und steht plötzlich an einem Ort, den man so noch nie gesehen hat – einem vergessenen Ort.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

So ist es mir dieses Jahr auf Rügen passiert. Eigentlich wollte ich gar nicht hin zu diesem „Lost Place“. Eigentlich wollte ich Landschaftsfotos machen. Wir waren ein paar Tage zuvor mit den Kindern im Stau stecken geblieben, ein wenig unbesonnen von der Straße abgefahren und einen Betonplattenweg entlanggejuckelt, der uns durchs wunderbare Nirgendwo wogender Felder und wilder Waldabschnitte führte.

Asl ich drei Tage später allein im Wagen saß, um mit der Kamera zurück dorthin zu fahren, nahm ich dann allerdings wieder so eine „Abkürzung“ (ja, man wird wagemutig im Urlaub!). Und plötzlich hatte ich mich irgendwo zwichen den weiten Feldern in einen Weg verirrt, neben dem aus einer großen, zugewucherten Fläche unpassenderweise ein alter Schornstein in den Himmel wuchs.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Ich ging näher ran und sah, dass durch das Buschwerk Gebäude zu sehen waren. Runtergekommen, ehemals wahrscheinlich weiß. Inzwischen ziemlich zugewachsen. Ich hatte von solchen „vergessenen Orten“ gehört. Manche Leute fahren völlig darauf ab, treiben sich da stundenlang rum, um zu fotografieren. Völlig langweilige alte Wände! War das hier so ein Ort?

Das Areal zog mich an. Aber weil auf dem Weg ein paar Halbstarke mit ihren Mofas rumhingen, habe ich mich lieber getrollt. Was sollte ich da auch? Ich will ja eh nur Menschen fotografieren. Oder hat Sebastaio Salgado sich etwa mit leeren Fabriken abgegeben?

Aber dann stand ich zwei Tage später wieder an genau derselben Stelle (mein Auto hatte mich irgendwie hingefahren). Keine Halbstarken. Keine Mofas. Nur die leere Betonstraße. Und der Schornstein, der den kaum noch zu erkennenden Eingang zum Gelände bewachte. Ich ging rein.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Ich stand mitten im Verfall. Das Gelände war einige Fußballfelder groß, so genau war das nicht zu sehen. Es schien, als stünden alle Gebäude noch, die wohl mal eine Art Fabrik gewesen waren. Aber alles war zerbrochen, entkernt, die Dächer eingefallen, der Blick auf den Himmel frei zwischen vermodernden Balken. Hier war kein Mensch. Das, was früher eine wuselige Arbeitsstätte gewesen sein musste, war nun eine industrielle Geistersiedlung.

Ich hatte die Kamera oben, noch bevor ich mir überlegen konnte, warum der ganze leblose Kram hier für mich „Menschenfotografierer“ überhaupt reizvoll sein sollte. Der Verfall des Menschengemachten, die überwuchernde Natur, die Menschenleere, die Stille, und über allem das Gefühl, eigentlich nicht hier sein zu dürfen, sind eine gigantische Mischung aus visuellem und emotionalem Eindruck. Zu fotografieren war unausweichlich.

Was ich an Verfall aufnahm, schien mir gleichzeitig schön und schaurig. Es hätten auch die Folgen eines Krieges sein können. Manches erinnerte mich an die Bilder von James Nachtwey.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Das Gefühl, nicht hier sein zu dürfen, war besonders. Es ging nicht darum, dass es vielleicht verboten war. Dass dieses Stück Grund inzwischen irgendeinem großgrundbestitzenden Landwirt gehörte, der gleich mit seinem 300-PS-Monster-Trecker um die Ecke kam und mich vom Hof jagte. Es ging darum, dass ich an einem Ort war, der jemand anders gehörte. Nicht dem Bauern. Sondern immer noch den Menschen, die hier einmal gearbeitet und gelebt hatten, die ihn zu ihrem Ort gemacht hatten mit all ihrem Tun und Streben, ihrem Hoffen, ihrem Scheitern, ihrem Lachen, Leiden und – wer weiß – ihrem Lieben.

Der Ort legte Zeugnis ab über sie. Er war eine Erinnerung an sie. Nichts hier war frei von diesen Menschen. Keiner von ihnen war hier, und doch waren sie überall. Es war wie ein Mahnmahl, das keiner als Mahnmahl gebaut hatte. Und das gerade darum so viel Wucht hatte. Denn es stand nicht für etwas Außergewöhnliches und Erhabenes. Sondern für das Normale und Einfache und Vergängliche. Und damit vielleicht für das Erhabenste überhaupt.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Es war offensichtlich, dass hier immer mal wieder Besucher herkamen. Viele Wände waren voll Grafiti. Das war nicht unpassend. Ästhetisch hatte es Charme. Gleichzeitig hätte es sich falsch angefühlt, selbst etwas zu verändern. Ich versuchte, nichts anzufassen und neben die Scherben zu treten. Und nutzte die Kamera, um festzuhalten, was jetzt noch da war. Bilder zu machen gegen das Vergessen.

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Ich hatte keine Ahnung, wie man Lost Places richtig fotografiert. Ich hielt mehr oder weniger drauf, während ich in letztlich nur 90 Minuten durch das ganze Gelände hastete (auch wenn es mir viel länger vorkam). Erst zuhause in Hamburg, als ich mir aus Neugier ein Buch über Lost Place-Fotografie kaufte, lernte ich: Der eingefleischte Lost-Place-Fan verbringt gerne mal einen ganzen Tag an einem Ort und fotografietrt oft nur wenige Motive. Die aber sehr gründlich, in der perfekten Position und mit Belichtungszeitreihen – natürlich vom Stativ aus.

Daraus bastelt er dann später am Rechner kunstvoll perfekte HDR-Bilder zusammen, die auch im tiefsten Schatten und im hellsten Licht noch Zeichnung haben. Und das Ganze am liebsten in Farbe.

Bisher war HDR-Fotografie nie mein Ding. Fand ich immer künstlich. Anderersseits: Die Kontraste auf meinen eigenenen Bildern (ohne HDR) sind schon krass. Zu krass? Und in Farbe sieht man, wie das Grün alles erobert, auch innerhalb der Gebäude. Vielleicht sollte ich mal was Neues ausprobieren? Nächstes Mal…

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Als ich wieder ins Auto sprang, um zum Campingplatz zu fahren, hatte ich  fest vor, in den nächsten Tagen wieder zu kommen, und einige meiner Bilder zu verbessern, un vielleicht noch neue Ecken der Fabrik zu entdecken.

Aber da wurde nichts draus. Denn als ich das nächste Mal losfuhr, nahm ich wieder einen anderen Weg – und landete in einer Versammlung von gleich vier kleinen, verlassenen Gebäuden entlang einer engen Dorfstraße. Nur eins davon taugte für Fotos. Ich blieb trotzdem. Ich wollte diesen neuen Ort untersuchen!

Mit etwas Abstand zurück in Hamburg wurde mir klar, dass keiner meiner Orte nur ansatzweise mithalten konnte mit den faszinierenden „vergessenen Orten“ von denen es so viele Fotos gibt: Alte Operationssäle, noch fast komplett eingerichtete Hotels, verlassene Autofriedhöfe und dergleichen mehr.

Aber egal. Der Anfang ist gemacht. Es gibt sicher noch einige verlassene Orte zu entdecken. Wahrscheinlich kommen sogar immer wieder welche dazu. Wo? Mal sehen!

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

Schwarzweiß-Foto vom Lost Place alte Fabrik auf Rügen (Copyright Björn Schwentker)

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Eine Antwort

  1. Hallo Björn,
    auf der Suche nach Lost Places für meinen nächsten Urlaub an der Ostsee bin ich über Deinen Blog gestolpert. Die ehem. LPG war nun auch dank der verfügbaren technischen Hilfsmittel nicht schwer zu finden… 🙂

    Das ist aber nebensächlich. Viel mehr haben mich Deine Bilder beeindruckt und die Texte dazu, die dem Ganzen in meinen Augen eine ungewohnte Tiefe und Intensität geben.
    Ich selbst zeige nur meine Bilder – ohne Texte – und hoffe, dass sie im Kopf des Betrachters etwas auslösen. Aber den Kontext zu kennen, in dem Fotos entstanden sind, das hat auch was.

    Was das Thema angeht, Lost Places „richtig“ zu fotografieren, möchte ich nach etlichen Jahren eigener Erfahrungen sagen, ganztägig, mit schwerer Ausrüstung und Stativ, kann man machen, muss man aber nicht. Oft genug schnappe ich mir nur die Kamera (Fuji X) mit WW-Objektiv, ziehe die Empfindlichkeit auf 3.200 ASA hoch, und los geht’s. Die Schlepperei habe ich mir mehr oder weniger abgewöhnt. Klar nutze ich auch mein Stativ, aber bevorzugt, wenn ich es mit dem Auto bis direkt an die Location karren kann. Oder ich nehme meinen kleinen Einkaufsroller und packe den Krempel da rein, wenn es sich um ein größeres Gelände handelt.

    Die Zeit, die ich an einem LP verbringe ist auch ganz unterschiedlich. Es kommt darauf an, ob mich der Ort inspiriert. Dann kann es tasächlich schon mal ein ganzer Tag werden. Ansonsten reichen manchmal auch 30 Minuten. Eins würde ich aber unterschreiben: es gibt Leute, die stellen ihre Kamera auf „Dauerfeuer“. Ist ja digital und kost‘ nix. Das halte ich für den falschen Weg. Es ist, wie Du schreibst. Man muss sich auf den Ort einlassen und dann zeigt er dir quasi selbst die besten Motive.

    Ich würde mich freuen, wenn Du auch mal einen Blick auf meine Seite wirfst, die aber leider auch nicht mehr aktuell ist. es sind inzwischen so viele neue LP hinzugekommen, die ich noch nachpflegen muss…

    VG
    Hajo

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