Tränen für die Freiheit

Im entscheidenden Augenblick war ich nicht nah genug dran. Als die Menge vor dem Brandenburger Tor, die auf dem Berliner March for Science für die Freiheit der Wissenschaft demonstrierte, „Die Gedanken sind frei“ sang, und die Menschen sich danach in die Arme fielen und einige weinten, war ich zwar mittendrin.

Aber ich konnte es nicht auf meinen Fotos festhalten. Nicht so, wie ich es empfunden habe – und darum geht es ja bei der Fotografie. Auge und Herz waren nicht dicht genug beieinander, würde der Stilpirat sagen.

Vielleicht lag es daran, dass ich seit fünf Jahren nicht mehr ernsthaft losgezogen bin, um Menschen zu fotografieren. Das Herz funktioniert noch, aber das Auge ist lahm geworden. Es braucht Bewegungstherapie!

Die folgenden Fotos sind also nur eine Annäherung an meine Wirklichkeit der Geschichte vom Berliner Marsch für die Wissenschaft. Aber eine Geschichte sind sie dennoch.

Sie beginnt mit den Butterstullen. Das Organisationsteam der Demo hat sie auf dem kleinen Platz vor der Humbold-Universität aufgestapelt, um die freiwilligen Helfer für die kommenden Stunden zu stärken, in denen der Demonstrationszug über die Straße „Unter den Linden“ zur Kundgebung auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor ziehen soll.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Es regnet, und der verhangene Himmel verspricht kein besseres Wetter für die Demo. Aber keiner hat schlechte Laune. Dafür ist das Vorhaben zu groß: Am heutigen „Earth Day“ gehen in weltweit 610 Städten Menschen auf die Straße, um ihre Stimme zu erheben für die Freiheit der Wissenschaft und gegen Unterdrückung der unabhängigen Forschung, gegen das Verdrehen von Fakten und gegen Ignoranz – sei es die von Donald Trump oder anderen Gegnern der Aufklärung.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Die Demonstranten tröpfeln ein. Immer mehr kommen, der kleine Platz vor der Humboldt-Uni füllt sich und die vorbereiteten Plakate gehen weg wie heiße Semmeln. Viele bringen eigene Schilder mit.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Draußen, vor dem Zaun des Uni-Geländes schlagen plötzlich Trommeln. Jemand scherzt über eine Gegendemo. Für unsere sind 1.000 Leute angemeldet. Die dürften wir auf dem Uni-Gelände inzwischen zusammen haben.

Ein paar Organisatoren drängen sich durch die Menge, raus aus der Uni, auf die Straße. Sie tragen das Banner, das den Demonstrationszug anführen soll. Vorneweg Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, der sich dem Marsch verschrieben hat und die Kundgebung moderieren will.

Auf der Straße ist alles voller Menschen. Aber das ist keine Gegendemo. Die gehören alle zu uns. Die Trommeln schlagen für unseren Marsch. Unter dem Reiterstandbild des Alten Fritz drängen sich die Leute. Und nicht nur dort, auch weiter die Straße runter. Die Situation ist schwer zu überblicken. Wie viele sind das? Es müssen Tausende sein.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Plötzlich ist lauter Prominenz am Banner. Die Fotografen sprinten vor.

Berlins Regierender Bürgermeister und Wissenschaftssenator Michael Müller ist gekommen, der Präsident der Leibnitz-Gemeinschaft, Matthias Kleiner, und auch der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Otmar Wiestler. Er ist gleichzeitig der Sprecher der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen. So gesehen sind sie alle da.

Da fällt kaum auch, dass auch Wolfgang Thierse direkt hinterm Banner steht. Der Liebling der Fotografen ist ohnehin Ranga Yogeshwar.

Aber natürlich gehört diese Demo den anderen, den vielen, die keine hohen Ämter haben, die nicht berühmt sind, die nun den Marsch vorantreiben Richtung Brandenburger Tor. Die Veranstalter schweben angesichts ihres Erfolges irgendwo zwischen Wolke sieben und dem Smartphonestress der Social Media Cloud, die mit aktuellen Infos versorgt werden will.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Der Zug demonstriert quasi lautlos. Nur die Trommeln machen Krach, Sprechchöre gibt es keine. Auch als alle kurz vor der
ungarischen Botschaft anhalten, um dort gegen die von Präsident Orban angeordnete Schließung der Central European University in Budapest die Stimme zu erheben, wissen sie nicht so recht, was der engagierte junge Mann da vorne ihnen durchs Megaphon vorspricht.

Egal. Es geht weiter.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Dann sind wir da. Das Brandenburger Tor ragt hinter der Bühne auf, die Menschenmenge füllt den Berliner Platz. 11.000 Demonstranten sind da, heißt es kurz später.

Kurz fühlt es sich an, als seien sie etwas benommen ob der Power, die sie auf die Straße bringen. Helmholtz-Präsident Wiestler stellt sich mitten auf die Bühne und macht erstmal ein Foto mit seinem Handy.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Das Bühnenprogramm geht los, Ranga Yogeshwar moderiert.

Redebeiträge wechseln sich ab mit Musik: Der Studentenchor Unität singt und Chorleiter Sven Ratzel hüpft über die Holzpanele.

Ich kauere auf der Bühne in einer kleinen Ecke rechts vorne, die den Fotografen zugewiesen wurde. Ich schieße von unten nach oben und in die Menge. Bewegen geht nur tief in der Hocke. Meine Knie schmerzen. (Zurück in Hamburg wird mir der Orthopäde später wegen einer akuten Entzündung das Knie ruhig stellen. Aber das war’s wert!)

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Irgendwann halte ich es nicht mehr auf der Bühne aus. Nicht wegen der Knie. Runter, ich muss runter. Zu den Demonstranten durch die Menge, sehen, wer das ist, wie die drauf sind. Ich springe ab und wühle mich durch den Platz.

Ich sehe: Freude, etwas tun zu können, Spaß am Protest, Stolz, dabei zu sein. Aber auch Ernsthaftigkeit und feste Entschlossenheit. Alle Alter sind da. Nicht nur junge Studenten, auch viele Eltern sind gekommen. Die Kinder sitzen auf den Schultern, tapfer recken sei ihre Schilder in die Höhe. Kleine Demokraten in der Mache.

Was mich erstaunt: Die vielen „Alten“, die schon (gut) jenseits des Rentenalters sein müssen. Sie sind völlig bei der Sache. Ich denke: Die wissen hier am besten um das, was zur Debatte steht: Freiheit.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Eher zufällig bin ich nach einer Runde über den Platz genau dann wieder an der Bühne, als dort das Finale mit „Die Gedanken sind frei“ losgeht. Ein Glücksfall, denn auf dem Weg vom Seiteneingang zur Fotografenecke muss und darf ich einmal quer über die Bühne. Ich komme dabei hinter dem Chorleiter vorbei, der gerade anhebt, die Menge zu dirigieren.

Ich drücke ab. Das Bild wird schlecht. Ausschnitt ohne Konzentration, verirrter Fokus, Scheiße belichtet. Später muss Photoshop es richten, damit das Foto sich überhaupt auf die Webseite traut. Egal. Hauptsache im Kasten. Ich stolpere fast über ein Kabel und meine Bühnenecke hat mich wieder.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Alle singen. Ich singe. Der Chor setzt ein und legt eine zweite Stimme unter die der Demonstranten.

Vor meinem inneren Auge das unpassende Bild: Das Gefühl von Harmonie und Gemeinschaft breitet sich ringförmig über den Pariser Platz aus wie die Druckwelle einer in der Mitte der Bühne gezündeten Bombe.

Ich schreibe hier den Text des Liedes hin, weil er untrennbar zu meiner Erinnerung gehört. Auf dem Pariser Platz wurde nur die erste Strophe gesungen. Ich füge die vierte hinzu, die mir beim Singen wie ein Untertitel durch den Kopf lief. Sie ist die eigentlich entscheidende Strophe.

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen.
Es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.

Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei.

Dann ist das Lied vorbei. Stille. Applaus. Die Kamera sucht die Menge. Klick, klick. Ich weiß, da weinen Leute. Ich sehe sie, ich ahne sie. Aber die Kamera ist mehr mit dem Suchen beschäftigt als mit dem Finden.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Puh. Das war’s.

Ruhig löst sich die Menge auf, die Gedanken scheinen noch über dem Platz zu hängen. Den Organisatoren ist anzusehen, wie stolz sie sind. Sie wollen, haben sie betont, weiter machen. Der March soll erst der Anfang gewesen sein. Die Freiheit der Wissenschaft soll für sie zur Daueraufgabe werden.

Es gibt starke und gute Kräfte in unserer Gesellschaft. Uns.

Hoffentlich vergisst die Politik nicht, ebenfalls dranzubleiben. Bürgermeister Müller wird nicht sagen können, dass er sich nicht erinnert. Er macht noch schnell ein Selfie mit Ranga Yogeshwar.

Foto vom March for Science in Berlin 2017

Share Button

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert